TEIL II Kapitel 15
Das
grüne Oldtimer - Cabriolet mit dem besonders geräumigen Kofferraum
folgte dem Polizeiauto, in dem Kant mit der Kommissarin und Janette vorausfuhr.
Sie hatten die Straße, die zum Hauptquartier führte schon fast
erreicht, als plötzlich an einer Kreuzung ein Kleinlastwagen, dessen
Ladung aus Propangasflaschen bestand, dem Streifenwagen die Vorfahrt nahm,
und völlig ungebremst in ihn hineinkrachte.
Kant hatte keine Chance auszuweichen. Der Aufprall schleuderte das Fahrzeug
zur Seite sodaß es zwischen dem Führerhaus des Lasters und einer
Gebäudemauer eingeklemmt wurde. Mit einem ohrenbetäubenden Knall
explodierte der Tank des Polizeiautos und die Flammen, die sofort den Motorraum
ergriffen, drohten auf den Lastwagen mit seiner gefährlichen explosiven
Ladung überzugreifen. Denn die Gaspatronen lagerten auf dicken alten,
zur Imprägnierung völlig mit Öl durchtränkten Holzbohlen,
mit denen der Blechboden des Auflegers verstärkt war.
Nick hatte auf der Stelle angehalten und sprang aus seinem Fahrzeug. Er versuchte sich zu nähern, aber die Flammen ließen es nicht zu. Weder der Unfallverursacher, noch die Insassen des zusammengeschobenen Polizeiautos machten Anstalten, sich zu befreien. Sie schienen verletzt zu sein, zumindest waren sie in ihrem Fahrzeug gefangen. Warum nur zertrümmerte Janette die hintere Scheibe nicht? Es war höchste Zeit. Die Hitze mußte im Inneren des Wagens für sie bereits zur Gefahr geworden sein und jeden Augenblick drohten die Gasflaschen sich in tödliche Bomben verwandeln.
Adriana rannte ihren Kollegen sofort zu Hilfe. Nur aus den Augenwinkeln bemerkte sie das Zögern des Detectives, der vor dem Feuer zurückschrak. Blitzschnell erfaßte sie, daß den Eingeschlossenen nur von der rückwärtigen Scheibe aus geholfen werden konnte. Es war zwar nicht möglich dort eine Position zu beziehen, ohne das Feuer zu durchqueren, aber sie mußte es zumindest versuchen. Sie ergriff einen Papierkorb und schlug auf die Heckscheibe ein, bis sie in kleine Stückchen zerbröckelte. Qualm drang aus dem Wageninnenraum ins Freie, sodaß die Sicht behindert wurde.
Eilig sprang die junge Frau auf den zerdüllten Kofferraum um sich rasch
vor den Flammen in Sicherheit zu bringen, die schon begannen ihre rechte
Seite zu verletzen. Sie spähte in den Fahrgastraum. Was sie sah verwunderte
sie: Kant lag reglos neben der Gefangenen auf dem Rücksitz. Es war
offensichtlich, daß der kräftige junge Mann bewußtlos war.
Adriana fragte sich, wie es der zierlichen Frau gelingen konnte, ihn trotz
ihrer Handschellen hinter dem Steuer hervor, zu sich zu ziehen. Doch das
Mädchen erschrak beim Anblick von Janette. Die Haut in ihrem hübschem
Gesicht begann sich an einigen Stellen bereits abzulösen. Ihre Kleidung
roch angesengt und qualmte an mehreren Stellen. Trotzdem verweigerte sie
dem jungen Detektiv, der sie so freundlich und respektvoll behandelt hatte,
ihre Hilfe nicht. Die Flammen reflektierten sich seltsam in ihren Augen
und ließen sie scheinbar blutrot leuchten. Als sie Adriana bemerkte,
rief sie ihr zu, Thorben an den Armen hinauszuheben. Seltsamerweise gelang
es Adriana durch Janettes Unterstützung mühelos, den schweren
Mann zu bewegen. Er schien überhaupt nichts zu wiegen.
Als dies geschafft war, machte die Arrestierte Anstalten, das brennende
Gefängnis zu verlassen und ohne Skrupel die eingeklemmte und in Panik
um Hilfe schreiende Kommissarin ihrem Schicksal zu überlassen. Sie
blickte sie kurz an. Sollte sie ruhig am eigenen Leib erfahren, was "ausgefallene"
Phobien bedeuteten!
Dann aber, einer plötzlichen Eingebung folgend, reichte sie ihr die
noch immer gefesselten Arme, damit sie sich daran klammern konnte. Es erschien
Adriana aber unwahrscheinlich, dass eine so zarte Gestalt wie Janette diese
Anstrengung alleine bewältigen konnte. Sie rief nach Nick. Es war ihr
absolut unverständlich, daß er eine solche Feigheit offenbarte.
Seine Vorgesetze, sein Kollege, ja sogar seine Freundin brauchten dringend
seine Hilfe, und er ließ sie einfach im Stich !
Der Vampir, der sich seiner Hilflosigkeit bei Feuer bewußt war, mußte
sich in diesem Fall völlig auf seine Kollegin verlassen . Er selbst
hatte die einzige Hilfe geleistet, die ihm in dieser Situation sinnvoll
erschien. Er befahl den hinzugeeilten Passanten mit den Auto - Feuerlöschern
zu versuchen, die Flammen zu ersticken und sich um den Unfallverursacher
zu kümmern. Er selbst begann sich umsichtig der schwelenden Zeitbomben
auf der Ladefläche zu widmen und entfernte in größter Eile
die Gasflaschen von dem Unfallort damit sie bei einer Explosion des Lasters
nicht das gesamte Wohngebiet in ein tödliches Inferno verwandeln konnten.
Als
die übrigen tatenlosen Zuschauer die Schreie der Assistentin hörten,
waren die Flammen immer noch nicht unter Kontrolle gebracht, aber die Hilferufe
veranlaßten immerhin einige von ihnen ihre Angst vor dem Feuer zu
unterdrücken und so schnell wie möglich Janette dabei zu unterstützen,
die eingeklemmte Polizeibeamtin aus ihrer Notsituation zu befreien. Es gelang
ihnen grade in dem Augenblick sich in Sicherheit zu bringen, als eine erneute
Explosion den Lastwagen in einen Pilz aus Rauch und Feuer verwandelte.
Der Luftstoß zwang Adriana auf die Knie, aber Janette schien von der
Druckwelle stärker erfaßt worden zu sein , denn im Stürzen
meinte sie, die Barbesitzerin regelrecht an sich vorbeifliegen zu sehen.
Als sie sich erhoben hatte trafen von allen Seiten die Sanitäts- und
Feuerwehrwägen an der Unglücksstätte ein.
Adrianas Groll gegen ihren scheinbar untätigen Kollegen war gigantisch. Voller Zorn versuchte sie ihn in dem Wirrwarr von Schaulustigen und Hilfspersonal auszumachen. Sicher würde auch seine Freundin ein Hühnchen mit ihm zu rupfen haben. Um so verwunderter war sie, als sie überrascht feststellen mußte, daß diese sich bereitwillig von ihm umarmen und eng umschlungen fortführen ließ, ohne ihm im geringsten Vorhaltungen zu machen. Janette weigerte sich trotz ihrer offensichtlichen Verbrennungen, die medizinische Versorgung der Sanitäter, die hilfsbereit auf sie zugelaufen kamen, in Anspruch zu nehmen. Adriana konnte noch hören, wie sie ihnen zurief, daß Nick sie sofort in eine Privatklink für plastische Chirurgie fahren würde, obwohl sie den Caddy eigenhändig steuerte und darin eilig verschwand.
Was sie jedoch nicht bemerkte, war der Umstand, daß Janette es in Wirklichkeit war, die ihren Vampirfreund stützte und in seinen Autositz bettete um ihn so rasch es ging vor den menschlichen Augen zu verbergen.
Als der Lastwagen explodierte und in hunderte von Einzelteilen zerbarst,
wurden Teile der Holzbohlen auf denen die Gasflaschen gestanden hatten in
alle Richtungen davon geschleudert. Nick, der sich zu seinem Schutz halb
abgewendet hatte, spürte plötzlich einen kurzen, beißend
Schmerz. Völlig überraschend traf ihn eines der scharfkantigen
Splitter geradewegs von der Seite in Höhe des Brustkorbes, und der
spitze vom Feuer glühend heiße Pfeil bohrte sich geradewegs in
sein Herz.
Der Unsterbliche war an seiner empfindlichsten Stelle gerade von der Waffe
getroffen, die ihn als einzige töten konnte, wenn es ihm nicht gelang,
sie sofort zu entfernen.
Es galt rasch zu reagieren ! Er mußte sie schnellstens herausziehen. Ein kleines Stück ragte an einer Stelle aus dem Fleisch. Hier konnte er ansetzen. Seine Augen leuchteten auf und seine Fänge zeigten sich als sichtbares Zeichen der motivierten Kräfte. Selbst die Möglichkeit sich vor den zahlreichen Menschen um ihn herum zu enttarnen, hinderte seine Wandlung nicht.
Doch das glühend heiße Dreieck versengte sein Fleisch und brachte sein Blut zum sieden. Der Schmerz war unerträglich, er raubte ihm seinen klaren Verstand. Panik diktierte seine Bewegungen und ließ keine überlegten Handlungsabläufe zu. Er wußte, diesmal ging es um sein Leben. Mehrmals zerrte er verzweifelt an dem Holzstück, aber jedesmal glitten seine blutigen Finger daran ab. Er spürte wie seine Kräfte schwanden, und wie ein pechschwarzer Schleier sein Sehvermögen einengte, bis er zu Boden stürzte.
Janette sah, daß Nicholas fiel. Sie handelte rasch. Sobald er im Inneren des Autos verborgen war, suchte sie nach der mysteriösen Ursache seiner unerwarteten Schwäche und entfernte das pfahlartige Gebilde. Sie erschrak. Es war nicht schwer zu erkennen, wie schlecht es um ihn stand. Er war nicht einmal mehr fähig seine Wandlung zurückzudrängen. Er brauchte dringendst Hilfe, aber so durfte ihn niemand erblicken.
Sie sah die Sanitäter, die auf sie zurannten , und startete eiligst den Wagen. Jetzt konnte nur noch einer ihn retten: LaCroix.
In
der Cerk- Radioanstalt war der alte Vampir wie jede Nacht auf Sendung. Er
rezitierte seine Monologe mit gewohnter Ironie in routinierter
Boshaftigkeit. Aber sie hörten sich wehmütiger an,
als zuvor.
Überhaupt schien er ein wenig sentimental in letzter Zeit. Die
offenkundige Selbstgefälligkeit, die seine meist keineswegs >gutgemeinten
Ratschläge< so überheblich klingen ließen, fehlte
fast völlig und war einer unterschwelligen, ungewohnten Melancholie
gewichen. Stilles unausgesprochenes Leid, verborgen in der
untersten Kammer seines kalten Herzens, nagte an ihm.
Hatte ihn noch kürzlich die Erwartung in euphorisches Hochgefühl
versetzt, daß die Enttäuschungen, die die menschliche
Gesellschaft seinem Schützling zugefügt hatte, ihn wieder näher
mit den Seinen verbinden würde, so schmerzte ihn nun die Tatsache doppelt,
daß Nicholas' Liebesleid ihn weiter von ihm entfernt hatte, als jemals
in ihrer langen gemeinsamen Zeit zuvor.
So sehr die unterschwellige Eifersucht, die er für Natalie hegte, ihn auch quälte, schätzte er doch ihre unfreiwillige Hilfestellung, die sie ihm in Hinblick auf seinen Sohn leistete : durch sie war er berechenbar ! Alle seine Schritte waren voraussehbar und die Überwachung des Widerspenstigen dadurch ein Leichtes.
Doch seit ihrer Trennung hatte Nick sich verändert. Er wirkte nicht nur fest entschlossen, den Kampf nicht verloren zu geben, sondern auch erstmals bereit, sein Leben alleine zu meistern. Aber konnte LaCroix diesen Anzeichen vertrauen schenken ? Bisher hatte ihn die Erfahrung gelehrt, daß sein Schützling um so tiefer in seinen Selbstanklagen versinken würde, je häufiger seine Emanzipations- und Befreiungsversuche fehlschlugen. Und, auch wenn er es niemals eingestanden hätte, er sich gerne wieder von seinem Mentor aufrichten ließ.
Nur - dieses mal schwand sein Einfluß auf ihn zusehens, der seidene Faden ihrer Verbundenheit war so hauchdünn geworden, daß er es kaum noch wagte sich ihm zu nähern.
Dabei verlangte es ihn mit jedem Pulsschlag seines Blutes nach ihm. Er sehnte
sich nach seiner Gesellschaft, ja selbst sein ständiger Widerstand
hatte ihn stets mit Genugtuung erfüllt. Sich mit ihm zu messen erzeugte
ein Glücksgefühl, das er nur ihm gegenüber empfand. Er hatte
schon oft um ihn gekämpft und gewonnen. Aber diesmal schien alles verloren.
Niemals zuvor hatte sein Zögling so entschlossen gewirkt. Er war ihm
so unangreifbar so unzugänglich so selbständig erschienen - und
so begehrenswert stark !
Gerade
hatte sich LaCroix mit einem kaum wahrnehmbaren Seufzer resigniert in seinem
Lehnstuhl zurückgelehnt, als ihn urplötzlich ein rasender Schmerz
in der Seite traf. Ein Thrill jagte durch seinen Körper, der ihn erschrocken
hochfahren ließ.
Sein erster Gedanke war, daß Nicholas nun seinem Leben ein Ende bereitet
und in die Sonne gegangen war.
Unwillkürlich blickte er zum Fenster hinüber. Der Tag hatte gerade
erst angefangen zu dämmern ! Es mußte ein Unglück geschehen
sein ! Etwas, das seinen Sohn bedrohte!
Blitzschnell aktivierten sich seine eben noch müden Sinne. Er wollte
zum Dachsims eilen, damit er von dort unauffällig starten konnte. Nicholas
brauchte Hilfe! Die Hilfe eines Freundes, eines Eingeweihten! Der Gedanke
brachte ihm seine gewohnte Überlegenheit zurück :
<Seine Hilfe !>
Die Unruhe legte sich unverzüglich. Was konnte es geeigneteres geben, seinen geliebten Sohn wieder zurückzugewinnen ? Er lächelte satanisch und bewegte sich dann langsam und äußerst gemächlich dem Ausgang zu.
< Nun bot sich ihm die Gelegenheit, an die er schon kaum mehr geglaubt hatte! Er würde sie nicht verstreichen lassen.>
Bei all seiner Sorge um den geschätzten Freund siegte doch die köstliche
Erregung der Vorfreude auf die Möglichkeiten, die sich ihm nun bieten
würden.
Heiterkeit belebte seine Sinne und ein triumphierendes Hochgefühl verhalf
seinen alten Knochen zu seltener Leichtigkeit. Seine Augen, gerade noch
betrübt und ausdruckslos, strahlten mit den Sternen um die Wette und
sprühten blutrote Funken in den verblassenden Nachthimmel. Es war seine
Chance! Alles war wieder offen in diesem Wettbewerb.
<Vabanque ! Es galt volles Risiko einzugehen!>